"An unseren Händen klebt kein Blut"

veröffentlicht am 22. Oktober 2015 auf nachdenkseiten.de

Was passierte hinter den Kulissen des Maidan? Eine spannende Frage, auf die von politischen Insidern in Zukunft noch interessante Antworten zu erwarten sind. Einer von ihnen hat nun seine Aufzeichnungen vorgelegt. „Ukraine: Die Wahrheit über den Staatsstreich“ heißt das Buch des früheren ukrainischen Ministerpräsidenten Nikolai Asarow, das zu Jahresbeginn in Russland und vor einigen Wochen auch auf Deutsch erschienen ist. In der Ukraine ist es schon verboten.


Nikolai Asarow
Der frühere ukrainische Ministerpräsident Nikolai Asarow hat seine Aufzeichnungen von der Zeit des "Euromaidan" vorgelegt. Bild: Eulenspiegel-Verlagsgruppe

Nikolai Asarow war vier Jahre lang Regierungschef unter dem später gestürzten Präsidenten Viktor Janukowitsch und ist eine der tragischsten Figuren im politischen Ringen während des Euromaidan. Ende Januar 2014, als die Maidanproteste bereits zwei Monate liefen, trat er von seinem Amt als Regierungschef zurück, um Raum für einen friedlichen Kompromiss zu schaffen, wie er im Buch erklärt – für eine Regierung der nationalen Einheit. Sein ganzes Kabinett trat verfassungsgemäß mit ihm zurück. „Die Einheit und Sicherheit des Landes sind das wichtigste Ziel“, betonte er damals.

 

Doch Asarows Sinn für das Notwendige sollte nichts helfen. Sein Rücktritt sei naiv gewesen, schreibt er. Janukowitsch bot den politischen Maidanführern Klitschko und Jazenjuk zwar die Posten des Ministerpräsidenten und dessen Stellvertreters an. Doch diese lehnten ab. Das Angebot Janukowitschs sei vergiftet, sagte Klitschko. „Vergiftet“ – eine Sprachregelung, die sich deutsche Medien in ihren Kommentaren damals gern zu Eigen machten. Asarows Abgang sei sowieso nur eine Minimalforderung (!) der Opposition. Janukowitsch müsse auch noch weg. Nichts wurde es, mit dem friedlichen Kompromiss.

 

Es brauchte einen weiteren Monat, um zumindest auf EU-Seite diesen Fehler einzusehen. Nach rund hundert toten Demonstranten, Polizisten und Maidankämpfern, mehr als tausend Verletzten und wochenlangem Straßenkrieg musste ein politischer Kompromiss her. Die Außenminister Polens, Frankreichs und Deutschlands reisten nach Kiew und zwangen die ukrainischen Oppositionspolitiker am 21. Februar zu einem Abkommen mit Janukowitsch, das u.a. eine Koalitionsregierung der nationalen Einheit vorsah.

 

Letztes Gespräch am Tag vor der Flucht

 

In seinem Buch schildert Asarow sein letztes Gespräch mit Janukowitsch eben am 21. Februar kurz nach Abschluss der Vereinbarung. Die Polizei müsse solange bleiben, bis der Maidan seine bewaffneten Kräfte abgezogen habe, forderte Asarow. Janukowitsch sei sich sicher gewesen, solche Garantien von den europäischen Außenministern zu bekommen.

 

Zeitgleich lehnte der inzwischen von militanten Rechtsradikalen dominierte Maidan das ausgehandelte Abkommen ab, stellte Janukowitsch ein Ultimatum und drohte mit bewaffnetem Sturm dessen Amtssitzes. „Tod dem Verbrecher“, schallte es aus dem Publikum vor der Maidanbühne.[1]

 

Am Morgen des 22. Februar war niemand mehr aus der politischen Führung der Ukraine zu erreichen, schreibt Asarow in seinem Buch. Kiew war in der Hand der Maidankräfte, diese Milizen hatten auch Straßensperren errichtet, die Polizei hingegen hatte sich zurückgezogen. Das Abkommen spielte nie wieder eine Rolle.

Später erfuhr Asarow, dass Maidan-Radikale Mordkommandos gebildet hatten, um Janukowitsch umzubringen – darum floh der Präsident. Und als noch am selben Tag Asarows Limousine, in der seine Frau evakuiert wurde, verfolgt und mit einer Maschinenpistole beschossen wurde, wusste er, dass es hier um einen Staatsstreich ging. „Zweifellos galt der Anschlag mir“, schreibt Asarow. „Die Attentäter wussten nicht, dass nicht ich im Fahrzeug saß.“ Staatsvertreter, zu denen er trotz Rücktritt noch gezählt wurde, sollten physisch ausgeschaltet werden. „Das war kein innenpolitischer Konflikt mehr, das war offenkundig ein militanter Putsch.“

 

„Geplanter Staatsstreich“

 

Der frühere Ministerpräsident schreibt auch, wer aus seiner Sicht dahinter steckte. Die EU sei es nicht gewesen. Sie hatte den Konflikt durch ihre Entweder-Oder-Haltung zwar mitinitiiert und lange befeuert. Aber zum Ende des Maidan habe es dort eine Kurskorrektur gegeben. Die drei Außenminister, die nach Kiew kamen, wollten Frieden, unterstreicht Asarow. Frank-Walter Steinmeier habe nicht zu den „Scharfmachern“ gehört.

 

„Die Amerikaner hingegen forcierten erkennbar die konfrontative Entwicklung“, erläutert Asarow. Es sei ein geplanter Staatsstreich gewesen. Schon der Maidan selbst war generalstabsmäßig durchorganisiert. Die politischen Maidanführer gingen in der US-Botschaft ein und aus und holten sich dort ihre Befehle, so der frühere Regierungschef. Auch deshalb habe Asarow nicht an Gesprächen mit den Oppositionspolitikern teilgenommen. Jazenjuk und Co. seien für ihn „keine ernstzunehmenden politischen Figuren“ gewesen. Man hätte mit deren Hintermännern sprechen müssen, um etwas zu erreichen.

 

Schon im Dezember habe US-Vizepräsident Joseph Biden nachts Janukowitsch angerufen und ihm mit „Strafen“ gedroht, wenn er den Maidan durch die Polizei räumen lasse. Janukowitsch zog daraufhin die geplante Räumung zurück.

Auch als später Radikale in der Westukraine Waffendepots staatlicher Sicherheitsbehörden plünderten, forderten westliche Botschafter wie US-Diplomat Geoffrey Pyatt die ukrainische Regierung auf, keine Gewalt anzuwenden. „Einen solch wohlfeilen Appell empfand ich als Hohn und Zynismus“, schreibt Asarow. „Wer übte die Gewalt aus, wer provozierte, wer besetzte Gebäude, wer stahl Waffen und Munition?“

 

Die unvermeidliche Victoria Nuland („Fuck the EU“) habe Asarow sogar direkt ins Gesicht gesagt, dass sie lieber Arsenij Jazenjuk als ihn im Amt des Ministerpräsidenten sähe. Präsident Viktor Janukowitsch habe während des Maidan versagt, urteilt Asarow. Er habe nicht gekämpft, als es noch mit demokratischen Mitteln möglich war. Aus Angst vor westlicher Kritik habe Janukowitsch irgendwann gar nichts mehr entschieden.

 

Ukraine nur geopolitischer Spielball

 

Es sei jedoch nie wirklich um die Ukraine gegangen, schreibt Asarow weiter. Der Westen habe innerukrainische Konflikte immer nur als Hebel in der Auseinandersetzung mit Russland benutzt. „Die Ukraine war nur der Keil in der strategischen Operation der Amerikaner, einen eurasischen Wirtschaftsraum von Westeuropa bis Wladiwostok zu verhindern.“

 

Russland und China bspw. hätten für das Jahr 2014 die Rekordsumme von mehr als 40 Milliarden Dollar an Krediten und Investitionen in ukrainische Infrastrukturprojekte geplant, darunter Autobahnen, Sozialwohnungen und Gaswerke, schreibt Asarow. „All dies erledigte sich durch den Umsturz im Februar 2014.“

 

Seitdem sei das Land in allen Bereichen um zehn Jahre zurückgeworfen worden. Durchschnittslöhne seien von über 400 auf 200 Dollar gesunken. Tausende Staatsbeamte wurden pauschal der Korruption angeklagt und viele wichtige Arbeiten sind liegengeblieben. Stattdessen wurden Denkmale gestürzt. „Wem hat das was gebracht?“, fragt Asarow. „Sind die Renten dadurch gestiegen? Der Sohn zog in den Krieg und kehrte als Krüppel wieder – lebt er nun etwa besser?“ Ohne den Putsch hätte es weder den Krieg noch den jetzigen Staatszerfall gegeben.

 

Kritik am IWF

 

Asarow, der bereits Finanzminister in früheren Kabinetten war, übt in dem Buch auch harte Kritik am Internationalen Währungsfonds (IWF). Dessen Empfehlungen seien in all den Jahren immer die gleichen und wenig hilfreich gewesen. Sie hätten nur in eine Abwärtsspirale von Kürzungen, Produktionsrückgängen und weiteren Kürzungen geführt. Zudem seien die Kredite immer mit Auflagen verbunden gewesen, die mit dem Prinzip nationaler Souveränität unvereinbar seien – etwa wenn der IWF über Renten, Mehrwertsteuer oder Nahverkehrstarife in der Ukraine bestimmen wollte.

 

Die jetzige Regierung hingegen exekutiere den Willen des IWF bedingungslos. Sie streiche Subventionen etwa für die Beheizung der Wohnungen oder kürze soziale und medizinische Programme. Gleichzeitig steigert Präsident Poroschenko den Militäretat und verdient daran als Rüstungsunternehmer selbst mit.

 

Diese und andere Passagen zeigen, dass Asarow das Buch vor allem für ukrainisches Publikum geschrieben hat. Sein Buch ist nämlich auch eine Bilanz und inhaltliche Rechtfertigung der eigenen Regierungszeit. Er will zeigen, dass die Ukraine nicht von einer „Verbrecherbande“ regiert wurde, wie die jetzigen Kiewer Machthaber behaupteten.

 

Aber auch für deutsche Leser lohnt die Lektüre durchaus, weil das Buch bei aller positiven Selbstsicht Asarows anhand zahlreicher Politikfelder zeigt, dass die westliche Pauschalkritik an dem „Regime“ so nicht korrekt war. Auch die unterhaltsamen Anekdoten aus Sowjetzeit, in die Asarow, der damals als Geologe arbeitete, immer wieder seitenlang verfällt, können deutschen Lesern verständlicher machen, mit welchen Problemen die ukrainische Gesellschaft bis heute teilweise zu kämpfen hat.

 

Viele Anekdoten, manche blinde Flecken

 

Asarows Buch ist hervorragend ins Deutsche übersetzt. Der Autor liefert zudem erschreckend erhellende Informationen aus dem inneren Machtzirkel der Ukraine – etwa wenn er darstellt, wie sich im Jahr 2006 der Sieger der Orangen Revolution Viktor Juschtschenko und der damalige Ministerpräsident Janukowitsch zwei Stunden lang nur über ihre jeweiligen Gesundheitsbeschwerden austauschen – in einer Sitzung, in der eigentlich über den Staatshaushalt gesprochen werden sollte.

 

Streckenweise liest sich das Buch wie Asarows Autobiografie. Doch der ehemalige Chef der Partei der Regionen offenbart darin auch blinde Flecken. Zum Beispiel kommt sein Sohn Oleksii nicht vor. Dessen wachsender Reichtum und Firmenbesitz (etwa durch Off-Shore-Holdings in Liechtenstein) waren Grund für Verdächtigungen und Kritik am früheren Regierungschef und sind vorgeblich auch Grund dafür, dass Vater und Sohn auf der EU-Sanktionsliste landeten.[2]

 

Die Kritik, dass sich Asarows Familie selbst am staatlichen Vermögen bedient habe, hätte der frühere Ministerpräsident im Buch ausräumen können. Ein paar Absätze dazu hätten durchaus zur Bilanz der Regierungszeit gehört und wären nicht themenfremder als seitenlange historische Anekdoten. Immerhin saß sein Sohn seit 2012 für die Partei des Vaters im Parlament und hatte sich so auch wichtige Posten in entsprechenden Ausschüssen und rechtliche Immunität verschafft. Dass Nikolai Asarow das Thema vollständig ignoriert, hinterlässt einen unschönen Beigeschmack. Auch Fehler der Regierung und der Sicherheitskräfte während des Maidan bleiben unerwähnt oder werden von Asarow beschönigt.

 

Trotzdem sind Momente der Selbstkritik in dem Buch vorhanden. Er hätte entschlossener gegen jede Form des Machtmissbrauchs vorgehen müssen, gesteht Asarow zum Ende. Die Empörung der Bürger sei teilweise berechtigt gewesen. Auch die Kritik an einzelnen Regierungsmitgliedern hätte er ernster nehmen müssen, als er es tat, so der frühere Regierungschef. „Wir haben Fehler gemacht“, bekräftigt er, „aber an unseren Händen klebt kein Blut.“



[1] Hier die afp-Meldung zu den Ereignissen auf dem Maidan an diesem Abend.

[2] Zu den Sanktionen gehört etwa das Einreiseverbot in die EU. Deshalb konnte Asarow zur Buchvorstellung in Deutschland nur per Skype zugeschaltet werden.